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Hinter den Bildern

"Denn jeder Anfang ist nur Fortsetzung, und das Buch der Ereignisse ist immer aufgeschlagen, mittendrin."

Wislawa Szymborska

 

Eine Momentaufnahme, malend eingefangen: Eine Gestalt strebt durchs Bild. Ein Bein ist eben kräftig nach vorn ausgeschritten, jetzt steht es fest geerdet, bereit, das ganze Gewicht des Körpers voranzutragen. Das andere Bein steckt noch mitten in der Unschärfe der Bewegung, gleich wird es den nächsten ausholenden Schritt machen: vorwärts, weiter, auf und davon. Die anthropomorphe Gestalt trägt ein Bündel aus Energie und kräftigen Farben, zieht es hinter sich her wie einen flatternden Umhang, ist selbst diese Energie. Ein Körper aus dunklem Blau, von dem Farbschlieren in alle Richtungen wehen, in den unbestimmten Hintergrund ausgreifen. Im Zentrum des gesichtslosen Wesens – wir begreifen es wie unsereins sofort als lebendiges Wesen – ballen sich starke Kontraste. Da flammen ein roter und ein grüner Schwung auf und schmiegen sich, vielleicht für diese Sekunde nur, aneinander. Da pulsieren Orange- und Violetttöne wie innere Organe dieser Figur im Transit. Dunkle Striche und Wirbel fügen sich an hellere Farbflächen, sie alle wie von einem elektromagnetischen Feld zusammengehalten. Trotz sprühender Wucht dieser Gestalt scheint überall der Bildgrund durch. Die Farben und Formen reagieren aufeinander, bilden in diesem Augenblick ein Ganzes, streben im nächsten schon wieder auseinander und verwandeln sich. Panta rhei – frei nach Platon, der Heraklit zitiert: Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln.

 

„Mach einen großen Schritt“ heißt das Bild von Tilly Börges, das formal durch den Akt des Schreitens und die Momentaufnahme in Bewegung an Marcel Duchamps berühmten „Akt, eine Treppe herabsteigend“ (1912) erinnert – auch wenn beide abgebildeten Gestalten mit ganz unterschiedlicher Intention in entgegengesetzte Richtungen streben. Beeinflusst vom noch jungen Medium Film und der Chronofotografie zum seriellen Einfangen dynamischer Abläufe zerlegte Duchamp die Bewegung eines Körperapparates in einzelne Schritte und hielt sie als äußeren Prozess visuell fest. Der kubistisch-futuristische „Akt“ ist pure Dynamik, er hat keine Innenwelt. Tilly Börges dagegen macht einen inneren Prozess sichtbar, der mit Vehemenz in die Außenwelt tritt – durch die sprechenden Farben, die Spannung der Form, die züngelnden Linien. Wo Duchamps Schlüsselwerk der Moderne bei aller Verspieltheit doch die konzeptionelle Kühle eines auf Leinwand übersetzten Sehexperiments verströmt, das zuerst intellektuell durchdrungen, dann hermetisch ausgeführt wurde, folgt Tilly Börges dem Kunst- und Weltverständnis eines Walt Whitman: „Logik und Predigten überzeugen nie. Der feuchte Nachttau dringt tiefer in meine Seele ein.“ Es ist eine intuitive Kunst, stilistisch dem Abstrakten Expressionismus nahe, die sich mit ihrer individuellen Farb- und Formensprache in die unbewusste, die geistige Welt stürzt – ganz wie die weit ausschreitende Figur es zu tun scheint.

 

Etwas sei wie von selbst auf sie zugekommen – so schildert Tilly Börges den Entstehungsprozess vieler ihrer Bilder. Es kann mit einer menschlichen Geste beginnen, mit einer Farbe, einem Strich. Und schon spielt sich vor dem inneren Auge die Dynamik des Malens ganz von allein ab. Wie ein Film. Jeder Pinselschlag verlangt unmittelbar nach einem anderen, der den vorigen ergänzt oder von ihm wegstrebt, der mit ihm ein Gespräch beginnt. Jede Gestalt trägt ihren Schatten in sich. Auch die Farben sind sich ein lebendiges Gegenüber, jede bringt ihre Komplementärkraft mit ein, hinter jeder tritt eine weitere hervor. Leuchten trifft auf gedämpfte Töne, vielfarbige Intensität auf einen ruhigen Hintergrund. Wie bei einem Musikstück schwingen alle Instrumente gleichzeitig, bilden ein Miteinander der verschiedenen Melodien. Die Farbklänge und ausgreifenden Formen dieser körperlich erlebten Malerei verlangen nach großzügigen Formaten. Wie die Künstlerin während des Schaffens in die als extrem vital wahrgenommene Farbenwelt ganz hineintritt, so drängt das Geschehen von den großen Leinwänden nach außen, wirkt unmittelbar und will mit den Betrachtern einen Dialog eingehen.

 

Mit ihrer offenen Struktur, ihrer Skizzenhaftigkeit, dem ständigen Schweben zwischen Figuration und Abstraktion bieten die Bilder viel Raum für ein Gespräch über die universellen Geschicke des Menschen. „Malend den Inbegriff finden für das Schöpfungsganze“ – so hat die Kunsthistorikerin Hannelore Ahorn die auf den Bildern vollzogene Sinnsuche, die Passion und die Intention der Künstlerin beschrieben. Ihre Wesen haben kein Gesicht, keine klaren Grenzen, sie sind nie ganz zu fassen. Vielleicht sind sie alle verschiedene Zustände der gleichen Figur. Vielleicht sind sie pure Energie. Damit verfängt sich in ihnen die Spannung eines Menschenlebens, das sich nicht festhalten lässt und mitsamt seinem explosiven, kraftvollen, farbig sprühenden Kern dem Tod entgegen strebt. Der Urgrund dieser Kunst – und vielleicht aller Kunst, die berührt – ist archetypisch. Wer einen Schritt auf sie zu macht, dem kommt sie mit aller Wucht entgegen.

Dr. Sonja M. Schultz

Kunsthidtorikerin Berlin

Im Zusammenspiel von Farbe und Form der Körper auf der Fläche vollzieht sich die Bewegung. Eine Künstlerin, die sich Bewegung zum Thema gewählt hat, muss selbst dem Leben, ja der Sinnlichkeit durchaus zugewandt sein. Für mich gehört Tilly Börges zu den Menschen, die eine rotierende Bewegung in sich haben – und nur diejenigen, so Francis Picabia, können andere Menschen anziehen.

 

Dr. Gisela Lehrke

Leiterin des Kulturamtes Bremerhaven

Bewegte Bilder – theatrale Momentaufnahmen. Bühnenkunst und Bildende Kunst – zwei Bereiche, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Hier die dynamische, fortwährende Auseinandersetzung mit Sprache, Musik, Bewegung, dort der in sich ruhende, sorgfältig komponierte Augenblick. Tilly Börges besitzt die Gabe, beide Ausdrucksmöglichkeiten auf unnachahmliche Weise miteinander zu verbinden.

 

Peter Grisebach

Ehemaliger Intendant des Stadttheaters

Bremerhaven

Tilly Börges stößt in neue Formenwelten vor, ohne das diese immer klar bestimmbar wären. Sie verfolgt den Weg einer, trotz der Gegenständlichkeit, elementaren, unmittelbaren Malerei. Die Künstlerin schöpft aus dem Unbekannten, aus den Heraus-forderungen des Materials und gewinnt eine neue Formenwelt. Ihr Handlungsspielraum ist der einer unbedingten Subjektivität. Ihre Bilder sind die Rückübersetzung des Erlebten in eigenes verdichtetes Vokabular. Aus der künstlerischen Aneignung von Phantasie und Erinnerung entsteht kein Äquivalent zum Erlebten, sondern eine autonome Bildwelt. Ein eigenständiger, visueller Kosmos, der im Grunde unsprachlich ist.

 

Hans-Dieter Sommer
Kunsthistoriker, Hamburg

Da Tilly Börges, wie es Künstler eben zu tun vermögen, in Bildern wahrnimmt und bildhaft ihre Gedanken verknüpft, hält sie Äußer-lichkeiten nicht für die wahre Wirklichkeit. So ist denn die in ihrer Malerei vorgestellte „Realität“ nicht identisch mit den äußeren Erscheinungen, sondern sie stellt sich dar als das Resultat von Außenwelt und dem „Subjekt“ welches sie fühlt und reflektiert. Wenn lichte, kühle Farbflächen über einen Bildgrund fluten, so dass man zunächst an ein Ährenfeld erinnert wird oder wehendes Gras, bis man dann Menschengestalten ausmacht, so ist das eine Aussage über das menschliche Dasein. Die Künstlerin hat ihre Ausdrucks-möglichkeiten zu einer fast selbstverständlichen „Sprache“ reifen lassen. Ich spreche hier nicht über den Begriff der Individualität, sondern im philosophischen Sinne vom „handelnden Subjekt“, das der Welt gegenüber tritt und ihr auf seine Weise gewissenhaft antwortet.

 

Hannelore Ahorn

Freie Kulturjournalistin

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